36 - ÜBERWÄLTIGUNG

Nach einem gemeinsamen Frühstück mit Georg bin ich heute Morgen alleine gestartet. Fred, der gestern Abend ja auch noch auf den Campingplatz gekommen war, blieb noch länger. Ihm wurde vor drei Tagen am Supermarkt die Regenhose geklaut, was er noch mit seiner Versicherung regeln wollte.

Auf mich haben die zwei letzten Fähren der Reise gewartet. Und die Strecke dort hin war unglaublich schön. Es blieb bis zur ersten Fähre eigentlich komplett trocken und ich konnte sogar in kurzer Hose fahren, weil es relativ milde 14 Grad hatte.

Die Umgebung hat sich in den letzten zwei Tagen nochmal so krass verändert. Und die Aussichten, die ich heute gesehen habe, haben mich wirklich mehrmals sprachlos gemacht. So etwas habe ich noch nie gesehen. Das bewölkte Wetter hat auch so eine ganz besondere Atmosphäre geschaffen. Wirklich atemberaubend.

Auf dieser Reise habe ich wirklich immer wieder gedacht, dass ich jetzt weiß, wie Norwegen aussieht. An meinem ersten Tag in Norwegen dachte ich

Das ist also Norwegen!

und am nächsten und übernächsten Tag kamen dann plötzlich ganz neue Landschaften.

DAS ist also Norwegen!

und so ging es eigentlich bis heute weiter. Es ist wirklich unglaublich abwechslungsreich und ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Jeden Tag gibt es mehrere Momente, die mich fassungslos machen. Fast jeden Tag hab ich geweint. Und oft waren das Freudentränen. Weil es hier so beeindruckend ist und weil man sich in dieser Weite und in dieser mächtigen Umgebung mit riesigen Felsen so klein und unbedeutend fühlt.

Aber auch die kleinen Begegnungen mit anderen Menschen, die ich jeden Tag habe, verpassen mir oft eine Gänsehaut. Heute Vormittag bin ich an einem Kindergarten vorbeigefahren. Die kleinen Kinder haben dort alle mit kleinen Warnwesten draußen gespielt. Als ich langsam am Zaun vorbeikam, weil es bergauf ging und ich ordentlich pedalieren musste, kam ein kleiner Junge angerannt. Er hat gelacht und irgendwas auf Norwegisch gerufen. Nochmal und nochmal. Mein Englisch hat er nicht verstanden. Aber es war so lustig und so süß! Wahrscheinlich wollte er wissen, wo ich hinfahre.

Nach der ersten Fähre hat mich ein junger Radreisender aus Belgien angesprochen. Wir sind gemeinsam zur nächsten Fähre gestartet und haben uns fast die ganzen 21 Kilometer unterhalten. Es war irgendwie lustig, wir haben total viele Parallelen in unseren Gedanken zu dieser Reise hier entdeckt. Er hatte vieles in den letzten Wochen ähnlich empfunden wie ich.

Zu zweit haben wir auch den Schauer, der uns irgendwann eingeholt hat, gut überstanden. Zur zweiten Fähre mussten wir nochmal ordentlich Gas geben, weil es alles ziemlich knapp wurde. Aber wir haben es hinbekommen.

Als wir in Olderdalen angelegt haben, erwartete uns ein unglaubliches Panorama. Auf der anderen Seite des Fjords haben mich die letzten Kilometer bis zum Campingplatz die Lyngenalpen begleitet. Die nennt man so, weil sie irgendwie wirklich ein bisschen an die Alpen erinnern. Nur, dass sie halt direkt am Wasser liegen. Und der Schnee liegt teilweise noch bis kurz über den Meeresspiegel in den Rinnen. Das ist sehr sehr eindrucksvoll.

Auch das Titelbild ist hier kurz vor dem Campingplatz mit Blick auf die Lyngenalpen entstanden. Ich bin hier in Djupvik schon relativ früh angekommen. Weil ich ganz gut in meinem Zeitplan liege und weil ich mich in den letzten Tagen ja schon ein wenig erschöpfter fühle, war es mir wichtig, einen entspannten Abend zu haben.

Seit zwei Tagen fange ich an zu begreifen, dass die Reise wirklich bald schon vorbei ist. Und jetzt zum Ende hin verfliegt die Zeit plötzlich auch noch schneller, als davor ohnehin schon. Emotional ist das sehr bewegend für mich. Nicht nur, weil ich eigentlich gerade schon meine Tage haben sollte (die diesmal wohl wirklich erstmal ausbleiben) und in einer hormonellen Achterbahn sitze. Nein, auch weil es einfach so viel zu verarbeiten gibt! Ich denke viel darüber nach, ob ich mein Ziel, ein bisschen unabhängiger und freier zu denken wohl erreicht habe. Und ich muss gestehen, dass ich schon auch manchmal noch so Gedankenspiralen habe, in denen ich mich mit anderen vergleiche. Und so eben auch meine Reise mit der von Anderen.

Heute habe ich mich, als ich über den gestrigen Abend mit Georg und seine Erzählungen nachgedacht hab‘, zum Beispiel gefragt, warum ich nicht so wahnsinnig viele junge Leute getroffen habe, wie er. Warum ich nicht so viele so wilde Sachen erlebt habe. Bestimmt wird es auch damit zu tun haben, dass ich viel mehr auf Campingplätzen geschlafen hab‘. Weil das Wetter schlecht war und weil ich eine heiße Dusche wollte. Ich hab mich gefragt, ob ich das bereuen soll.

Aber dann hab ich gedacht: Nein. Jeder macht seine ganz eigene Reise. Und ich glaube, auf meiner Reise ist alles genauso gekommen, wie es hat kommen sollen. Für mich war das gut, so wie es jetzt gelaufen ist. Ich hab‘ genau die Leute getroffen, die ich hab‘ treffen sollen. Und jeder hat mir auf seine Art und Weise etwas mitgegeben. Viele waren älter als ich, aber ich hab‘ dadurch auch so viel gelernt. Es waren Begegnungen, die ich sehr schätze, die sehr tiefgründig waren, obwohl wir nicht sehr viel Zeit miteinander verbracht haben. Und es gibt bestimmt auch Leute, die ich nur aus dem Grund getroffen habe, um daraus zu lernen, wie ich nicht sein möchte oder von wem ich mich fernhalten will. Oder weil die Begegnung für irgendeine andere Lektion gut war. Und deswegen waren die auch ok.

Also vergleiche ich mich nicht mehr. Es ist ja auch kein Wettbewerb. Und ich hab‘ die Reise ja auch auf meine eigene Art und Weise angefangen und so werde ich sie auch zu Ende bringen. Genauso, wie jeder hier seine Reise auf seine ganz eigene Art und Weise beenden wird. Und das ist dann wieder diese Freiheit.

Léoni

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Tourdaten

KM gesamt: 4061,13

HM gesamt: 40584

Zeit gesamt: 210:18

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KM heute: 89,23

HM heute: 778

Zeit heute: 4:40

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Aktueller Standort

9146 Olderdalen, NO

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