28 - POLARKREIS

Dass es Abends gefühlt unendlich lange hell ist, ist verhängnisvoll. Man vergisst beim Essen oft die Zeit und ein Sättigungsgefühl kommt selten. Eine Legende besagt, dass die meistgefragte Frage unter den Radreisenden ist:

Und was ess‘ ich jetzt?!

Und dann ist es plötzlich Mitternacht, bis man im Schlafsack liegt, weil man einfach drei Stunden lang gevespert hat.

Weil ich aber gemerkt habe, dass ich es schön finde, um 18 Uhr schon an einem Schlafplatz anzukommen, wollte ich heute versuchen, wieder ein bisschen früher auf dem Fahrrad zu sitzen. Mein Wecker hat um sechs geklingelt. Es standen bis zur nächsten Fähre 90 Kilometer auf dem Plan. Die wollte ich - genau wie Fred - bis um 14:30 Uhr runtergeschruppt haben. Weil wir danach noch eine zweite Fähre zu schaffen hatten und die irgendwie auch nicht ständig fahren, würde der Plan mit der frühen Campingplatz-Ankunft nur so funktionieren. Aber - so viel kann ich schonmal vorwegnehmen - das wurde noch eine ganz schöne Herausforderung.

Heute war aber nicht nur ein herausfordernder Tag, sondern auch einer, bei dem ich mich sehr darüber gefreut habe, wie vernetzt hier alle sind. Die Radreisenden, das ist eine ganz eigene Community. Viele von uns fahren in die selbe Richtung, aber jeder hat einen ganz eigenen Rhythmus. Jeder geht seinen ganz eigenen Weg und macht seine ganz eigene Reise. Und trotzdem passiert sich oft, dass diese Wege sich überschneiden. Dass man den Rhythmus für einen Moment oder einen Tag oder sogar mehrere Tage mit jemandem teilt. Und manchmal passieren dann so lustige Situationen wie heute, wo sich an irgendeiner Stelle der Kreis wieder schließt.

Achtung, ich muss ein bisschen ausholen: Einige von euch werden sich noch an Gerd erinnern. Ihn hab‘ ich kurz vor Kristiansund an der Bushaltestelle vor dem Tunnel getroffen. Zusammen mit einem anderen Paar aus Berlin. Und mit Gerd war ich dann ja an diesem Abend auf dem selben Campingplatz, genauso wie die zwei nächsten Nächte. Gerd ist der, der mit dem Fahrrad um Europa fahren wird. Und Gerd hatte mir oft von Guido erzählt, einem Schweizer, mit dem er einige Tage unterwegs gewesen war. Bevor er mich getroffen hat. Und die zwei Wege haben sich dann aber irgendwann getrennt, weil Guido so wie ich nur begrenzt Zeit hat und Gerd auf dem Weg noch einige Zwischenstopps mit Pausen und Familienbesuchen einlegt. Ich dachte also, Guido sei deutlich vor mir auf der Strecke. Und Gerd meinte auch, dass ich ihn wohl nicht einholen würde.

Naja, jedenfalls haben sich dann in Trondheim auch Gerds und mein Weg getrennt. Wir stehen aber noch in regem WhatsApp-Kontakt. Und heute beim Frühstück kam plötzlich ein Mann in die Küche und sagte

You must be Léoni!

Ich habe erstmal verwundert geschaut. Und dann bejaht. Und dann sagte er, wir könnten auch Deutsch sprechen, weil er der Guido sei, der auch mit Gerd unterwegs gewesen war. Gerd hatte ihm wohl von mir erzählt. Und das war dann so ein lustiger Moment, weil Guido und ich uns ja eigentlich garnicht kannten. Aber wir haben uns so gefreut, uns zu sehen! Guido war ganz aus dem Häuschen. Er staunte darüber, wie schnell ich unterwegs war und erzählte, dass er sich ganz unsicher gewesen war, als er mich gesehen hat. Er hätte wohl nicht gedacht, dass ich ihn einholen würde, aber dann dachte er sich

Das muss sie sein!

Guido hat mir erzählt, dass er nur noch eine halbe Tagesetappe zu seinem Ziel zu fahren hatte. Er hat, wenn ich mich richtig erinnere, die Strecke zum Nordkapp in mehrere Teile unterteilt, die er in mehreren Jahren immer im Sommer fährt. Weil er immer nicht so viel Zeit am Stück hat. Und heute waren es quasi nur noch 25 Kilometer bis zu dem Punkt, an dem er schonmal gestartet war. Oder irgendwie so. Jedenfalls ist er dann losgefahren. Ich hab noch zu Ende gefrühstückt und Gerd von unserer Begegnung geschrieben. Der war natürlich ganz verzückt.

Und dann bin ich auch losgefahren. Es war trocken aber bewölkt. In der Luft lag ein unfassbar toller Duft von frisch gemähten, feuchten Wiesen. Ganz anders als zu Hause riecht das hier. So würzig.

Schon nach 12 Kilometern ging es ordentlich hoch. Zwar nichts, was ich nicht bewältigen könnte, aber 300 Höhenmeter am Stück hatte ich auf der ganzen Tour glaube ich noch nicht.

Auf den umliegenden Bergen lag überall noch ein bisschen Schnee und es wurde immer kühler. Ich konnte irgendwann meinen Atem sehen. Oben angekommen, hab‘ ich mir kurz Zeit für die Aussicht auf den Fjord genommen.

Aber nach ein paar Fotos bin ich auch schon weitergedüst. Bergab!

Und unten im Tal ist mir dann plötzlich jemand entgegengekommen. Ich hab ihn erst garnicht erkannt.

Ciaooo Léoni!

hat er gerufen. Das war Guido! Wir haben nochmal kurz angehalten und uns darüber gefreut, dass wir uns getroffen haben. Was für ein riesengroßer Zufall! Wir haben noch ein Selfie für unseren Kumpel Gerd gemacht und uns darüber amüsiert, dass wir das gleiche Merino-Tshirt anhatten. War einfach wirklich alles sehr witzig. Als Guido weitergefahren ist, hab‘ ich lachend den Kopf geschüttelt vor Verwunderung.

Am Supermarkt einige Meter weiter hab‘ ich Fred und einen anderen Radreisenden eingeholt, die morgens schon vor mir gestartet waren. Die zwei sind aber direkt weiter und ich war noch kurz pinkeln. Jeder nach seinem Tempo.

Und dann bin ich tatsächlich den Rest der 90-Kilometer-Etappe zur Fähre durchgeradelt. Ohne Fotos. Im Nachhinein bereue ich das ein wenig. Ich würde zwar behaupten, dass keine Aussicht dabei war, die ich in der Art nicht schon gesehen hatte. Aber wie dekadent ist es denn bitte, so zu denken? Jede Aussicht ist es eigentlich wert, anzuhalten.

Aber ich will halt vorankommen! Die Vorfreude auf die Lofoten ist so groß. Und das hat mich bis zur Fähre gebracht, auch wenn es noch richtig schwer war. Es gab ordentlich Gegenwind, immer wieder gemeine kleine Anstiege und Tunnel. Am Ende hatte ich so Hunger, wollte aber unbedingt die Fähre schaffen. Also gab es nur Snacks aus der Rahmentasche, während ich im Sattel saß. Die Uhr hat ganz schön zügig getickt. Aber ich hab wirklich ordentlich geschwitzt und alles gegeben. Und dann bin ich zehn Minuten vor Abfahrt an der Fähre angekommen. Fred war auch schon da und hat sich gefreut, mich wiederzusehen. Und da hatte ich die Strapazen auch schon fast wieder vergessen. Manchmal braucht es einfach auch eine kleine Challenge. Ein Ziel vor Augen, eine Herausforderung. Und dann die Freude, dieses Ziel zu erreichen. Klar, ich habe ein ganz großes Ziel, das mich seit vier Wochen vorantreibt. Aber das wirkt manchmal noch so absurd, dass ein kleineres, realistischeres Ziel, mit enger gestecktem Zeithorizont, irgendwie gut tut.

That ambition that you have, that‘s something you have to keep! It‘s gonna get you far in life.

Hat Fred zu mir gesagt. Ich glaube, er spürt sehr, dass ich manchmal Schwierigkeiten habe, stolz auf mich zu sein. Man merkt, dass er auch Vater ist.

Auf der Fähre haben wir uns in schön weiche Ledersitze fallen lassen und gegessen. Das hat gut getan. Wir waren beide sehr müde und erschöpft, aber glücklich. Denn mit der Fähre haben wir einen weiteren Meilenstein erreicht. Auf dem folgenden Foto kann man es ganz leicht erkennen, wenn man ein bisschen reinzoomt.

Ein kleiner metallener Globus ist da an der Küste aufgestellt. Wie am Nordkapp. Es ist der nördliche Polarkreis. Wow!

Gibt’s Feuerwerk?

hat Oli mich gefragt, als ich ihm das Bild geschickt habe.

Im Herz ein bisschen.

hab‘ ich geschrieben. Vier Wochen zum nördlichen Polarkreis. Was hab‘ ich ein Glück, dass meine Beine so stark sind.

Für die letzten 28 Kilometer zur nächsten Fähre, die uns direkt zum Campingplatz bringen würde, haben Fred und ich uns dann genug Zeit gelassen und sind gemeinsam gefahren. Das war auch toll, da konnten wir die Landschaft noch ein bisschen genießen. Und Fotos machen!

Es beeindruckt mich wirklich jeden Tag, wie abwechslungsreich Norwegen ist. Als Oli und ich vor drei Jahren schonmal hier waren, hab‘ ich ja nur den Süden kennengelernt. Ich dachte dann, das ganze Land wäre so. Aber es ist wirklich sehr eindrucksvoll, wie sich die Landschaft Kilometer für Kilometer verändert.

Abends am Campingplatz habe ich mir nochmal die Fotos der letzten vier Wochen angesehen. Manchmal fällt es mir schwer, die ganzen Eindrücke im Kopf zu behalten. Es sind so viele! 28 Tage, von denen jeder Tag so aufregend war. Ich bin dankbar, das erleben zu dürfen. Dankbar für meine Gesundheit, die mir das möglich macht.

Jetzt freue ich mich wie Schnitzel auf die Lofoten. Übermorgen will ich dort sein.

Léoni

P.S. Gestern habe ich wohl den letzten Sonnenuntergang für eine Weile erlebt. Hier wo ich bin, geht die Sonne nicht mehr unter. Das find‘ ich wirklich unglaublich wild. Und schön.

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Tourdaten

KM gesamt: 3304,62

HM gesamt: 33688

Zeit gesamt: 172:35

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KM heute: 116,28

HM heute: 1390

Zeit heute: 5:38

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Aktueller Standort

8178 Halsa, NO

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