19 - FREI

Schon heute Nacht hat es richtig viel geregnet. Und als ich wach geworden bin, hörte es auch einfach nicht auf. Den Fjord und die Berge hat man im ganzen Nebel und den Regenschwaden garnicht mehr gesehen.
Ich hab mich direkt in Regenklamotten eingepackt und dann alles hoch zum Aufenthaltsraum gebracht. Mein Schlafsack bekommt immer ein bisschen Feuchtigkeit von der Zeltwand ab, besonders wenn es regnet. Und die soll er auf jeden Fall loswerden dürfen, bevor er eingepackt wird.
Währenddessen hab‘ ich mir ein gutes Porridge gekocht, um mich für den Tag zu stärken. Meine Motivation, alleine raus in den Regen zu fahren, war in dem Moment nicht so vorhanden. Alles hat mich angestrengt. Nicht körperlich, eher mental. Meine ganzen Sachen schon wieder ans Fahrrad zu packen. Das Zelt nass in die Packtasche zu stopfen. Die Regenjacke bis nach oben zuzuziehen und zu hoffen, dass sie mich warm hält.
Heute Morgen fand ich es besonders schade, dass niemand bei mir war. Niemand der mir eine Umarmung gegeben hat. Niemand der zu mir gesagt hat
Du schaffst das!
Oli, der mal wieder über alles im Bilde war, hat mir das geschrieben. Aber es ist nicht das gleiche übers Handy. Wenn man so viel körperliche Nähe von Freund und Familie gewohnt ist, vermisst man das nach fast drei Wochen einfach. Heute Morgen hab‘ ich mich sehr allein und einsam gefühlt.
Und trotzdem war für mich klar, dass ich nicht aufgebe. Nichts ist so sicher, wie der Fakt, dass jeder noch so unangenehme Moment vorbei geht. Der Regen hört irgendwann immer auf und die Laune wird irgendwann immer besser.
Im Dauerregen bin ich losgefahren. Ich war irgendwie immernoch sau müde. Ob das daran lag, dass ich vielleicht zu viel geschlafen hatte in den letzten Tagen, oder am Wetter, das weiß ich nicht. Vielleicht bin ich auch wirklich noch müde und es sind noch nicht alle Speicher wieder aufgefüllt. Wer weiß.
Aber im Laufe des Vormittags wurde es besser. Die Aussichten waren trotz oder vielleicht grade aufgrund des Wetters sehr besonders. Es lag so eine mystische Stimmung in der Luft.

Und als es irgendwann quasi nicht mehr geregnet hat, nur noch leicht genieselt, hab ich gemerkt, dass meine Kräfte zurückkommen. Wieder unterwegs zu sein, hat mir heute so gut getan! Ich weiß, dass sich viele Leute gestern sehr gefreut haben, dass ich endlich einen Pausentag einlege. Man sollte auch meinen, dass ich mich danach viel besser gefühlt habe. Ich war schon auch ziemlich regeneriert, aber ich hab‘ auch gemerkt, dass mich der Tag Stillstand sehr belastet hat. Und beim darüber nachdenken hat mich dann belastet, dass es mich belastet hat. Also irgendwie eine ungute Situation. Gestern konnte ich noch nicht so richtig annehmen, dass ich mir das verdient habe, zu pausieren. Die Realisation kam heute erst so langsam. Was mir vor allem geholfen hat, war darüber nachzudenken, was ich in den letzten Tagen und Wochen alles schon erreicht habe. Wie viele Kilometer ich schon geradelt bin.
Ich hab so unglaublich viel erlebt, so viel Neues gesehen. Jede Nacht an einem anderen Ort geschlafen. Das ist auch einfach ganz schön viel zu verarbeiten. Ich glaube, das kostet auch Energie und davon kann man sich auch manchmal müde fühlen. Und davon, dass man denkt, man muss jetzt Fotos machen, oder bei jeder Aussicht anhalten und Pause machen, wie ein klassischer Touri. Aber das muss ich ja eigentlich garnicht. Ich bin doch frei. Ich kann diese Reise genau so gestalten, wie ich möchte. Und als ich das heute realisiert hab‘, hat der Tag plötzlich richtig Spaß gemacht. Mir war nämlich heute nicht so danach, super viel anzuhalten und alles zu dokumentieren. Mir war einfach nach radeln. Also hab‘ ich mir ein paar Folgen Podcast auf die Ohren gehauen und bin gefahren. Und das hat gut getan. Ich bin frei, diese Reise genau so zu gestalten, wie ich möchte. Und wenn ich dabei einfach mal einen Tag lang nur stumpf pedalieren möchte, dann darf ich das. Das ist das Allertollste an der Freiheit.

Kurz vor dem Campingplatz konnte ich nochmal richtig gut einkaufen. Weil mein Neurodermitis in den letzten Tagen wieder extrem aufgeflammt ist und ich ziemliche Probleme damit im Gesicht bekomme, hab‘ ich mir zum Ziel gesetzt, die restliche Reise mehr auf meine Ernährung zu achten. Das ist zwar unterwegs total schwierig, vor allem bei meinem Kalorienverbrauch. Aber mein Körper verträgt den ganzen Zucker nicht so gut. Mein Einkauf besteht jetzt also eher aus unverarbeiteten Lebensmitteln, Obst und Gemüse, Brot, Käse, Nüssen, Trockenobst. Erfreulicherweise gab es dann noch eine Art Drogerie, sodass ich noch ein paar Sachen besorgen konnte, die seit einer Woche auf meiner Liste stehen.
Auf dem Weg zum Campingplatz hab‘ ich dann noch mit Fanny telefoniert, was mir richtig richtig gut getan hat. Ich merke auf dieser Reise, dass es mir deutlich schwerer fällt, mit dem allein sein. Bei den letzten Reisen war das auch so, aber nicht so krass. Aber inzwischen vermisse ich wirklich körperliche Nähe. Eine Umarmung. Und so ein schönes Telefonat kann sich manchmal ein klein wenig wie eine Umarmung anfühlen.
Deshalb hab‘ ich dann beim Vespern abends auch noch mit Oli gefacetimet. Das war Balsam für meine Seele. Drei Wochen noch. Auf den Tag genau. Dann können wir uns wieder in den Arm nehmen.

Jetzt wo ich im Schlafsack liege, bin ich zwar müde, aber zufrieden. Mein Leben ist irgendwie ein bisschen wie Fahrradfahren. Klappt nur gut, wenn ich in Bewegung bleibe.
Eine weniger schöne Sache ist mir zwar heute noch passiert, aber so etwas musste auch irgendwie einfach noch sein, glaub’ ich. Heute Morgen ist mir wohl beim Radeln irgendwie die Brille runtergefallen. Ob ich sie oben im Helm stecken hatte oder am Lenker irgendwie - weiß ich nicht mehr. Jedenfalls hab‘ ich plötzlich gemerkt, dass sie fehlt. Bin dann mehrere Kilometer zurückgefahren, um sie irgendwann am Straßenrand liegen zu sehen. Irgendjemand musste drübergefahren sein, jedenfalls war der eine Bügel abgebrochen. Vielleicht war‘s auch nur ich - keine Ahnung. Die Brille war auch schon ein paar Jahre alt und hatte deutliche Gebrauchsspuren, deshalb war das jetzt nicht das Allerschlimmste für mich. Aber trotzdem schade. Die hätte sicherlich auch noch eine ganze Weile gut halten können.
Ich bin aber richtig stolz auf mich, die Sache in dem Moment einfach so angenommen zu haben. Ich hab‘ die Brille mit dem Gewebeband von Papa so gefixt, dass man die noch tragen kann. Und dann bin ich weitergefahren. Richtung Nordkapp.
Léoni
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Tourdaten
KM gesamt: 2277,08 (mehr als die Hälfte! Es verbleiben mit meinen aktuell geplanten Etappen noch 2209km)
HM gesamt: 22256
Zeit gesamt: 121:27
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KM heute: 130,2
HM heute: 1795
Zeit: 6:49
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Aktueller Standort
6065 Ulsteinvik, NO






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